Lage in Moria/Kara Tepe: Europäische Lösung nicht in Sicht, Österreich muss Menschenleben retten und drohenden Kontrollverlust verhindern

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Pressemitteilung
Wien, 17. September 2020

Forscher*innen der Uni Wien, WU Wien und der Med. Uni (Wien) fordern eine sofortige Evakuierung der griechischen Lager.

In einer Aussendung des Wissenschaftsnetzes Diskurs betonen Forscher*innen, die zu Fragen von Migration, Flucht und Vertreibung arbeiten, dass die Situation von Geflüchteten auf den griechischen Inseln und vor allem im neu errichteten Lager Kara Tepe aus wissenschaftlicher Sicht äußerst problematisch ist. Sieverstößt außerdem gegen gesetzliche Regelungen der EU selbst. Das ist ein untragbarer Zustand, wie Erkenntnisse aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen zeigen. Zahlreiche Expert*innen und NGOs warnen seit Monaten vor den Konsequenzen der ungelösten EU-Migrations-und Asylpolitik. Jahrelang hätten Griechenland, die EU und ihre Mitgliedstaaten es verabsäumt, auf den griechischen Inseln für menschenwürdige Zustände zu sorgen. Die Verhandlungen der EU-Innenminister*innen über den kürzlich vorgestellten EU-Migrationspakt blieben ergebnislos. Migrations-und Fluchtforscherin Judith Kohlenberger bewertet die Situation wie folgt: „Es ist nicht zu erwarten, dass im Pakt enthaltene Vorschläge wie „Rückführpatenschaften“ und „flexible Solidarität“ die Situation auf Lesbos verbessern werden. Deshalb muss man handeln, solange ein drohender Kontrollverlust der Situation an den EU-Außengrenzen noch abgewendet werden kann.“

Verwendete Begriffe sind falsch und irreführend
Der Gebrauch von Euphemismen wie „return sponsorships“ [„Rückführpatenschaften“], so zeigen diskursanalytische und soziolinguistische Analysen, verschleiern die tatsächlichen Vorhaben. Denn in diesem Fall bedeutet eine „Patenschaft“ nicht eine Übernahme einer Obsorge-Verpflichtung für einen Schützling als „Pate“ oder „Patin“ (wie etwa bei der kanadischen Asylpolitik), sondern die Bereitschaft, sich um dessen Abschiebung zu kümmern. Die Diskursforscherin Ruth Wodak erklärt weiter: „Die Bezeichnungen für Flüchtende, Asylwerber*innen und Migrant*innen in den meisten Medienberichten wie auch in der politischen Kommunikation verzerren signifikant die Faktenlage und sind bewusste Desinformation. Breitangelegte Untersuchungen der britischen, österreichischen und bundesdeutschen Presse zeigen auf, dass einwandernde Personen zu Unrecht als „illegale Migrant*innen“ dargestellt und damit vorab kriminalisiert werden – ein typischer Trugschluss der vorschnellen Generalisierung.“ Denn schon in der Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 1, Absatz 1) steht, dass „Straffreiheit der illegalen Einreise besteht, sofern der Flüchtling sich umgehend bei den Behörden meldet und er unmittelbar aus dem Fluchtland kam“. Dies bedeutet, dass aus der –nur kurzfristig als illegal geltenden –Einreise das Attribut „illegal“ fälschlicherweise auf die einreisenden Menschen übertragen wurde. Nur bei Ablehnung des Asyl-Ansuchens halten sich diese Menschen daher tatsächlich illegal in einem Land auf.

Die EU verstößt gegen ihr eigenes Recht
Die Genfer Flüchtlingskonvention, der Österreich 1951 beigetreten ist, sichert darüber hinaus im Artikel 33 den Schutz vor Ausweisung (Non-Refoulement-Prinzip). Weiter enthält die Europäische Grundrechte-Charta (als Teil des Lissabonner Vertrages im Rang des EU-Primärrechts) ein Recht auf Asyl. Die Kinderrechte Konvention aus dem Jahre 1989 wurde von Österreich 1992 unterzeichnet. Ihr Artikel 38 bestimmt, dass jedes Kind das Recht auf Schutz vor Krieg besitzt; Kinderflüchtlinge haben das Recht auf besonderen Schutz und Hilfe. Der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak betont, dass die Aufnahme-Richtlinie Mindeststandards für die Grundversorgung von Asylwerber*innen vorsieht. Die Asylverfahrens-Richtlinie bestimmt, dass Asylwerber*innen an der Grenze das Recht auf Einreise und Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren haben. Währenddessen dürfen diese nicht inhaftiert oder ausgewiesen werden. Aufgrund dieses Rechtsbestandes habe die EU de facto ein Menschenrecht auf Asyl akzeptiert. Dies bedeute freilich nicht, dass alle Asylsuchenden auch das Recht hätten, als Flüchtlinge anerkannt zu werden, erklärt Nowak: „In jedem Fall aber haben Asylwerber*innen das Recht, einzureisen und während des Asylverfahrens Zugang zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten zu erhalten. Das ist in den Lagern auf den griechischen Inseln eindeutig nicht der Fall, womit die EU gegen die Grundrechte verstößt, die sie sich selbst gegeben hat.“ 

EU-Grenze ist die tödlichste der Welt
Moria ist somit keine überraschende, sondern eine bewusst produzierte Katastrophe. Die bisherige Migrationspolitik der EU ist reine Sicherheitspolitik – die aber, wie die Situation in den Hotspots deutlich vor Augen führt, chronische Unsicherheit für die eigentlich Betroffenen, nämlich asylsuchende Menschen, schafft. Das vermeintliche „subjektive Sicherheitsgefühl“ in Österreich, für welches häufig die zuletzt niedrigen Asylantragszahlen und Investitionen in den Grenzschutz angeführt werden, ist teuer erkauft. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist die europäische Mittelmeergrenze die tödlichste der Welt, noch vor der stark militarisierten Grenze der USA zu Mexiko. „Moria ist tragisches Symptom einer konsequenten, jahrelangen Auslagerung der EU-Außengrenzen an Drittstaaten, etwa in Form des EU-Türkei-Abkommens oder des Italien-Libyen-Deals. Frei nach der Devise: ‚Aus den Augen, aus dem Sinn‘,“ so Kohlenberger. Der Zugang zum Grundrecht auf Asyl, das in der Geschichte Europas hart erkämpft wurde, sei dadurch massiv erschwert bzw. verunmöglicht.

Der „Pull-Faktor“ ist wissenschaftlich nicht erwiesen
Aus historischer Sicht, so der Historiker Philipp Ther, müssen Kinder immer als die schwächste und damit schützenwerteste Gruppe betrachtet werden. So überlebten 1939 10.000 österreichisch-jüdische Kinder das Nazi-Regime, weil Großbritannien seine Grenzen für die sogenannten Kindertransporte öffnete; in den 1930er-jahren, während des spanischen Bürgerkrieges, wurden 20 000 spanische Kinder vor der Ermordung durch Franco-Faschisten von der französischen Zivilbevölkerung gerettet. 1992 öffnete Österreich als erstes westliches Land seine Grenzen für die Kriegsflüchtlinge (darunter viele Kinder) aus Jugoslawien. Die meisten von ihnen waren nach dem Ende des Krieges so gut integriert, dass sie für die österreichische Wirtschaft einen Wachstumsschub brachten. Daher, meint Ther, „ist die Haltung gegenüber den Flüchtlingskindern aus Moria geschichtsvergessen und kontraproduktiv. Dass die Aufnahme von Kindern Nachzügler motivieren könnte, ebenfalls in die EU oder nach Österreich zu flüchten, ist aus wissenschaftlicher Sicht falsch.“ Flüchtlingsströme werden vor allem durch lebensbedrohliche Umstände in den Herkunftsländern wie den syrischen Bürgerkrieg beeinflusst, nicht durch vermeintliche „Pull-Faktoren“ oder gar einem von der Regierung konstatierten „Moria-Effekt“. Die gegenwärtige Flüchtlingspolitik sei schädlich für das politische Klima und die wirtschaftliche Entwicklung im Inland sowie für das Renommee im Ausland.

Fluchttraumata bei jungen Menschen
Junge Menschen sind von den Belastungen der Flucht besonders betroffen. Das ist aus der klinischen Praxis der Kinder-und Jugendpsychiatrie (spätestens seit der Migrationsbewegung 2015) bekannt. Belegt wurde es kürzlich durch eine Untersuchung an 133 scheinbar gesunden jungen Menschen (bis zum 30. Lebensjahr) aus 9 Flüchtlingszentren in Deutschland: bei 42,8% von ihnen wurden mehr als drei Risikofaktoren festgestellt, die stark mit psychopathologischen Symptomen und sozialer Maladaptation verknüpft waren. Überdies wurden bei 40% der Probanden auch körperliche Schäden (Schuss-und Bombenverletzungen, Brandwunden und Verletzungen durch Elektroschocks) festgestellt. Angesichts derartiger Zahlen, betont der Kinderpsychiater Ernst Berger, „ist der medizinische Hilfsbedarf evident und eine Verweigerung dieser Hilfe aus ärztlicher (und allgemein-menschlicher) Perspektive nicht vertretbar“.

„Hilfe vor Ort“ ist unmenschlich und funktioniert nicht – Einer Evakuierung der Kinder von den griechischen Inseln steht nichts im Wege
Laut Mitgliedern des Wissenschaftsnetzes Diskurs, die zu Fragen von Migration, Flucht und Vertreibung forschen, ist die Errichtung neuer Lager auf den griechischen Inseln keine dauerhafte Lösung für die chronische Krisensituation: „Die jüngsten Überschwemmungen, aber auch gewalttätigen Übergriffe im neuen Lager Kara Tepe sind der traurige Beweis, dass die Hilfe vor Ort nicht funktioniert. Es wäre falsch, genau jene Strukturen aufrechtzuerhalten, die ursächlich für den Brand in Moria waren: chronische Überfüllung, lange Aufenthaltsdauer, fehlende Perspektiven, unzureichende Unterbringung und Versorgung. Dieses sogenannte „Warehousing“ geflüchteter Menschen birgt nicht nur drastische Folgen für die Betroffenen, darunter Chronifizierung psychischer und physischer Belastungen und sexualisierte Gewalt, sondern wirkt sich auch nachhaltig negativ auf das lokale Umfeld aus“, so der Politikwissenschaftler Alexander Behr. 

Durch diese untragbaren Umstände wird laufend der Artikel 3 (Verbot von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Die anhaltende Krisensituation in den Lagern belastet zudem die griechischen Inselbewohner*innen, führt zu verstärkten Spannungen und Ressentiments und befeuert eine nationalistische Anti-Migrations-Rhetorik. Die Folge ist eine schleichende Erosion europäischer Werte und Normen. All das lösen Hilfslieferungen, die Schutzsuchende –wenn überhaupt –mit großer Verspätung erreichen, nicht. Deshalb fordern die Wissenschaftler*innen eine sofortige Evakuierung der griechischen Lager: „Wenn wir jetzt handeln, können wir dafür sorgen, dass Kinder, Frauen und Männeraus Lesbos und dem griechischen Festland in geordneter, koordinierter, regulierter Form aufgenommen werden. Wir können punktgenau nachverfolgen, wo diese Menschen, nachdem sie entsprechende Sicherheitsmaßnahmen wie Quarantäne und Tests durchlaufen haben, untergebracht werden, wer für sie verantwortlich ist, wie ihre Aufnahme in Österreich strukturiert abläuft. Einer Evakuierung von Menschen aus den griechischen Lagern nach Österreich stünde daher nichts im Wege.