Politischer Kurswechsel in Chile (Presseaussendung vom 20.12.2021)

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Pressemitteilung
20. Dezember 2021

Die Stichwahl um die Präsidentschaft in Chile stand vergangenen Sonntag ganz im
Zeichen der Polarisierung. Nach dem ersten Wahlgang Mitte November kam es zum Duell
zwischen Gabriel Boric von der linken Koalition Apruebo Dignidad und dem ultrakonservativen
José Antonio Kast von der rechtsextremen Republikanischen Partei.
Obwohl im Vorfeld ein knappes Rennen erwartet wurde, war das Ergebnis letztendlich
eindeutig. Boric gewann mit 56 Prozent der Stimmen; Kast erreichte 44 Prozent.
Die Stichwahl war nicht nur Ausdruck einer gespalteten Gesellschaft, sondern auch einer
Vertrauenskrise des politischen Systems. Boric und Kast gehören zwei Parteien an, die
bisher noch an keiner Regierung beteiligt waren. Seit dem Ende der Pinochet-Diktatur vor
31 Jahren wurde Chile ausschließlich von Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Koalitionen
regiert. Die politisch aufgeheizte Stimmung im Land schlug sich auch in der
Wahlbeteiligung nieder. Diese war mit 56 Prozent deutlich höher als noch vor einem
Monat.

„Der gewählte Präsident Gabriel Boric hat eine progressive soziale Agenda, die in Chile
wichtig ist. Denn entgegen der internationalen Wahrnehmung, dass Chile ein
wohlhabendes Land sei, ist es vielmehr ein gesellschaftlich zutiefst gespaltenes Land mit
einer sehr reichen Oberschicht, einer immer kleiner werdenden Mittelschicht und
wachsender Armut. Ein Prozent der Bevölkerung verfügt über etwa ein Drittel des
Vermögens, was Chile zu einem der ungleichsten Länder der Welt macht,“ sagt Ulrich
Brand, Professor fur Internationale Politik am Institut fur Politikwissenschaft an der
Universität Wien.

Mit 36 Jahren wird der ehemalige Studierendenaktivist Boric kommenden März als
jungster Präsident Chiles vereidigt werden. Seinem Wahlbundnis gehörten neben dem
linken Parteienbundnis Frente Amplio und der Kommunistischen Partei auch feministische
und ökologische Gruppierungen an. Im Wahlkampf hatte sich Boric fur soziale
Gerechtigkeit, Umweltschutz und Feminismus stark gemacht. Er trat fur ein
„menschlicheres Chile“ ein und sah sich als Sprachrohr sozialer Bewegungen. In seiner
ersten Rede als neugewählter Präsident sprach Boric „vom Sieg der Hoffnung uber die
Angst“. Chile, so meinte er, stehe nun „an einem historischen Wendepunkt“, den es nicht
verpassen durfe.
„Kast hatte im Wahlkampf vor allem Ängste geschürt. Er ist ein Anhänger von Ex-Diktator
Pinochet und sieht sich als Garant von Sicherheit und Ordnung. Bei seinen Auftritten
hetzte Kast mit rechtspopulistischen Parolen gegen Einwanderer, ‚Kriminelle‘, und
‚Fanatiker der Gender-Ideologie‘ “, sagt Aaron Tauss, Professor fur Internationale Politik
an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín. Zudem lehne er die
gleichgeschlechtliche Ehe und Abtreibungen strikt ab. Bei der Stimmabgabe am Sonntag
schlug Kast jedoch gemäßigtere Töne an und versicherte unabhängig vom Wahlergebnis
„weiter fur Chile arbeiten zu wollen.“ In der Wahlnacht gratulierte er Boric schließlich via
Twitter zu seinem „großen Triumph“ und versicherte ihm „vollen Respekt und konstruktive
Zusammenarbeit.“

Die Sichtwahl um das Präsidentenamt galt in Chile als die wichtigste Abstimmung seit dem
Ende der Pinochet-Diktatur. Linke Kräfte und soziale Bewegungen sahen darin eine
Chance, das Land gerechter zu machen und nachhaltig zu verändern. Gleichzeitig sollte
angesichts der Polarisierung das Wiedererstarken der extremen Rechten unter einer
Präsidentschaft Kast verhindert werden.

„Trotz hohem Wirtschaftswachstum und bedeutender Rohstoffvorkommen (vor allem
Kupfer, Gold, Silber, Lithium und Nitrate) sind Einkommen und Reichtum in Chile ungleich
verteilt“ sagt Aaron Tauss. „Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung kämpft tagtäglich
mit teuren Mieten und hohen Lebenserhaltungskosten, während Löhne und Renten
niedrig sind. Auch Chiles Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung sind
unzureichend und sozial ungerecht und zwingen viele Menschen in Armut und
Verschuldung“, sagt Aaron Tauss. „Dazu kommen große Umweltprobleme wie
Wasserknappheit. Gerade für europäische und auch österreichische Firmen wird es
künftig wichtig werden, auf soziale Standards und Umweltstandards zu achten,“ so Ulrich
Brand.

Vor zwei Jahren demonstrierten Hunderttausende monatelang gegen soziale Ungleichheit
und Chiles neoliberales Wirtschaftsmodell und fur eine neue Verfassung. Die konservative
Regierung des scheidenden Präsidenten Sebastián Piñera reagierte mit Gewalt und
Repression. Insgesamt kamen bei den Massenprotesten 34 Menschen um Leben; mehr
als 3.800 wurden verletzt und uber 11.000 festgenommen. Eine neue Verfassung, so die
Hoffnung vieler, wurde nicht nur Pinochets neoliberales Erbe uberwinden. Sie könnte auch
die soziale Kluft im Land verkleinern und wichtige Reformen auf den Weg bringen.
„Der Wahlsieg von Boric zeigt, dass sich die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung nach
grundlegenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen sehnt. Dies
wurde schon in den Protesten der vergangen Jahre mehr als deutlich. Konkret ging es
dabei es um die Stärkung sozialer Rechte, ökologischer Nachhaltigkeit, einer
Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und den Ausbau des Sozialstaates“, so
Aaron Tauss.

Politikwissenschaftler Brand: „Boric will den öffentlichen Sektor stärken, das
Gesundheitssystem ausbauen, das private Rentensystem zurückdrängen und Steuern für
Superreiche deutlich erhöhen. Gerade das privat organisierte Bildungssystem nimmt
vielen Menschen Lebenschancen. Schul- und Studiengebühren kosten oft 400 US-Dollar
im Monat; das aber ist das Monatseinkommen vieler Familien. Damit wird Bildung zur
Klassenfrage und hängt vom Geldbörsl der Eltern ab.“
Aaron Tauss warnt aber: „Das Wahlergebnis verdeutlicht jedoch auch, dass ein großer
Teil der Bevölkerung bereit ist, einem Pinochet-Anhänger, der rechtsextreme,
nationalistische und rassistische Ideen verbreitet, ihre Stimme zu geben. Chiles Rechte
rund um Kast wird in den kommenden Monaten versuchen, Pincohets Vermächtnis zu
bewahren und eine neue Verfassung und somit ein gerechteres und sozialeres Chile zu
verhindern“.

Im Juli dieses Jahres hat eine demokratisch gewählte und geschlechterparitätisch
besetzte verfassunggebende Versammlung mit der konkreten Ausarbeitung einer neuen
Verfassung begonnen. Noch vor September nächsten Jahres soll die chilenische
Bevölkerung in einem Referendum daruber abstimmen. Im Gegensatz zu seinem
Kontrahenten hat Boric die Forderung nach der neuen Verfassung von Anfang an
unterstutzt. Es ist von daher anzunehmen, dass er nun auch als Präsident das Ringen um
ein progressives, post-neoliberales und feministisches Grundgesetz positiv beeinflussen
wird.