Drängende Probleme auf dem Arbeitsmarkt – ForscherInnen debattieren Reformbedarf (Presseaussendung, 07.12.2021)

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Pressemitteilung                                 

„Drängende Probleme auf dem Arbeitsmarkt – ForscherInnen debattieren Reformbedarf“

Wien/2021-12-07 // Expertinnen und Experten mehrerer Universitäten sowie der Institute WIFO, IHS und FORBA diskutierten auf einer Online-Konferenz der Universität Wien am 2. und 3. Dezember wissenschaftliche Evidenz zum Reformbedarf am Arbeitsmarkt. Als größte Probleme wurden behandelt: die hohe Langzeitarbeitslosigkeit und die mit ihr verbundene Armutsgefährdung sowie die Ausbreitung prekärer Arbeit. Bezogen auf die aktuelle politische Diskussion um das Arbeitslosengeld lautete eine Schlussfolgerung, dass man nicht daran drehen solle, wenn man arbeitsmarktpolitische Ziele, wie mehr Jobaufnahmen, erreichen will. Dafür gibt es effizientere Instrumente, wie etwa eine bessere Betreuung und Weiterbildung der Arbeitsuchenden. Die Erfahrungen mit Arbeitsmarktreformen in Deutschland zeigte Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen auf. So hat der durch die Hartz-Reform bewirkte Absturz langjähriger Beitragszahler in Armut die Gesellschaft polarisiert ohne die Vermittlungschancen zu verbessern. Dies wäre auch von einer Abschaffung der Notstandshilfe in Österreich zu erwarten.

 

  1. Stark gestiegene Langzeitarbeitslosigkeit
  • Die Langzeitarbeitslosigkeit hat in Österreich drastisch zugenommen. Von den älteren Erwerbslosen ab 45 Jahren sucht derzeit mehr als die Hälfte (genau 54%) länger als ein Jahr nach Arbeit. Noch schwieriger ist die Situation der Arbeitssuchenden mit gesundheitlichen Einschränkungen: Bereits 6 von 10 (genau 62%) von ihnen sind langzeit­beschäftigungslos, suchen also schon über 12 Monate einen Job. In diesen Daten zeigt sich, dass Ältere und gesundheitlich Beeinträchtigte von Unternehmen diskriminiert werden, wie Jörg Flecker von der Universität Wien betont. Nur 16% der Unternehmen stellten laut WIFO im Jahr 2017 Personen im Alter von über 50 Jahren ein und nur 13% solche mit gesundheitlichen Einschränkungen.
  • Wie Ingrid Mairhuber von FORBA aufzeigte, geht nur die Hälfte der Frauen aus der Erwerbsarbeit direkt in die Pension. Es besteht die Gefahr, dass die Altersarbeitslosigkeit weiter steigt, wenn Frauen wie geplant ab 2024 später in Pension gehen.
  • Der systematischen Ausgrenzung älterer und gesundheitlich beeinträchtigter Personen sollte mit neuen Maßnahmen begegnet werden. Neben Anreizen für Unternehmen und Förderungen für soziale Unternehmen kann das Konzept der „Arbeitsplatzgarantie“ Beschäftigung für die auf dem Arbeitsmarkt Benachteiligten schaffen. Dabei wird allen Langzeitarbeitslosen zum Beispiel einer Gemeinde ein gemeinnütziger Arbeitsplatz angeboten, wie Hannah Quinz von der Universität Wien ausführte.
  1. Prekäre Arbeit: Unsichere Beschäftigung bei niedrigem Lohn
  • Prekäre Arbeit, also Erwerbsarbeit, die nicht zur dauerhaften Existenzsicherung ausreicht, nimmt zu. Oft halten Unternehmen einzelner Branchen arbeits- und sozialrechtliche Standards nicht ein – bisweilen auch durch komplexe Konstruktionen des Sozialbetrugs, wie Gerlinde Titelbach vom IHS darstellte. Besonders häufig sind Migranten und Migrantinnen gezwungen, prekäre und gesundheitlich problematische Arbeit zu akzeptieren. Hier zeigt sich auch zusätzlicher Regulierungsbedarf bei der Leiharbeit.
  • Wie Bettina Haidinger von FORBA am Beispiel der Bauarbeiter Urlaubs- und Abfertigungskasse (BUAK) aufzeigte, sind effektive Kontrollen und die gerichtliche Verfolgung von arbeits- und sozialrechtlichen Verstößen wichtige und oft erfolgreiche Maßnahmen gegen prekäre Arbeit. Vorteilhaft wäre, auch in anderen Bereichen die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und Sozialpartnern zu verbessern. Die bestsehenden Rechte durchzusetzen, kann also schon ein wichtiger Beitrag gegen prekäre Arbeit sein.
  1. Kurzarbeit, Arbeitslosengeld und Notstandshilfe
  • Wie Nadia Steiber von der Universität Wien betont, hat die Kurzarbeit in der Corona-Pandemie Beschäftigung gesichert. Die Maßnahme konnte aber nicht verhindern, dass viele Familien finanzielle Probleme bekamen – auch dann, wenn davor beide Elternteile erwerbstätig waren. So hat sich der Anteil der Familien mit finanziellen Schwierigkeiten schon drei Monate nach Beginn der Corona-Krise mehr als verdoppelt.
  • Zweck des Arbeitslosengeldes und der Notstandshilfe ist es, Armut während der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Das gelingt in Österreich nicht ausreichend, wie Karin Heitzmann von der WU Wien mit Evidenz aus der Armutsforschung belegt. Je länger die Arbeitslosigkeit dauert, desto höher wird das individuelle Armutsrisiko. Dauert die Arbeitslosigkeit zwischen sechs und elf Monaten, so ist bereits ein knappes Drittel armutsgefährdet; unter den ganzjährig Arbeitslosen schon mehr als die Hälfte. Eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes insbesondere bei längerer Dauer der Arbeitsuche wäre notwendig. Das durchschnittliche Arbeitslosengeld (984 €) und die durchschnittliche Notstandshilfe (810 €) liegen weit unter der Armutsgefährdungsgrenze (1.328 €).
  • Verfehlt erscheint jedenfalls, mit einem niedrigen Arbeitslosengeld „Anreize“ zur Aufnahme von Beschäftigung schaffen zu wollen. Oft würde man damit die Älteren und gesundheitlich Beeinträchtigten bestrafen, denen Unternehmen kaum Chancen geben. Und nach einer Studie des SORA- und des Momentum-Instituts suchen ohnehin 95% der beim AMS Gemeldeten auch selbst aktiv nach einem neuen Job. Laut Helmut Mahringer vom WIFO würde ein Absenken des Arbeitslosengeldes bei längerer Arbeitslosigkeit nur wenige zusätzliche Beschäftigungs­aufnahmen bringen. Wirkungsvoller und kostengünstiger wäre es, die Arbeitsuchenden intensiver zu betreuen und Langzeitarbeitslosen mehr Weiterbildung anzubieten. Andrea Weber von der Central European University zeigte auf, dass ein großzügiges Arbeitslosengeld zwar die Arbeitslosigkeitsdauer leicht erhöht, aber den für die Einzelnen und auch die Volkswirtschaft günstigen Effekt hat, dass die nächsten Jobs dauerhafter und besser bezahlt sind.

„Die aktuellen Befunde aus der Forschung zeigen also, dass es einen großen Bedarf an Reformen bei der Regulierung des Arbeitsmarktes gibt“, fasst Jörg Flecker, einer der Organisatoren, die Tagung zusammen. So wäre es nötig, Arbeitslosengeld und Notstandshilfe anzuheben, um Armut zu vermindern. Neben neuen Instrumenten zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit und effektiven Maßnahmen gegen Lohndumping und prekäre Arbeit sollte eine Reform auch in den Blick nehmen, dass Unternehmen häufig Kosten auf das AMS abwälzen, indem sie Arbeitende für kurze Zeit in Arbeitslosigkeit schicken und dann weiterbeschäftigen. Man könnte diesen Unternehmen höhere Beiträge abverlangen.