Freiwillige Zertifikate kein wirksames Mittel gegen Entwaldung – Befunde aus der Wissenschaft

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Pressemitteilung
15. März 2021

Die zunehmende Entwaldung durch die agrarindustrielle Nutzung ist eines der größten und folgenschwersten ökologischen Probleme des 21. Jahrhunderts. Dass diesem Problem nicht mit freiwilliger Selbstverpflichtung durch Zertifikate und Nachhaltigkeitsstandards – den zurzeit beliebtesten Lösungsversuchen – beizukommen ist, wird auch durch wissenschaftliche Evidenzen bestätigt.

Entwaldung als vordringliches ökologisches Problem
Entwaldung bzw. menschliche Landnutzung generell, emittiert netto 6 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr. Es ist damit die zweitgrößte Quelle von Treibhausgasemissionen hinter fossilen Energien1 und der größte Treiber des weltweiten Biodiversitätsverlustes2. Mehr als die Hälfte der globalen Entwaldung kann auf die Produktion und den Konsum von land- und forstwirtschaftlichen Produkten zurückgeführt werden3. Ein steigender Anteil dieser Produkte wird in globalen Lieferketten rund um den Globus gehandelt, bis diese ihre Endkonsument*innen erreichen. So verdoppelte sich der Anteil der Entwaldung, der mit Exporten verbunden war, zwischen 2000 und 2011 von 18% auf 36% der globalen Entwaldung4.

Die EU ist durch ihren hohen Konsum und steigende Importe aus tropischen Ländern ein großer Treiber des globalen Drucks auf Wälder und Landökosysteme5. Um diesen Trend umzukehren, hat die europäische Kommission einen politischen Prozess zur „Intensivierung der EU-Maßnahmen zum Schutz und zur Wiederherstellung der Wälder der Welt“ gestartet, inkl. einer öffentlichen Konsultation. Unter den dazu eingereichten politischen Vorschlägen nahmen die Verwendung neuer oder bestehender Gütezeichen und Zertifizierungen den größten Teil ein – v.a. weil sie hohe Befürwortungsraten, besonders auch von Seiten der Industrie, aufweisen6.

Freiwillige Nachhaltigkeitsstandards und Zertifizierungssysteme sollen Unternehmen zu einer verantwortungsvolleren Geschäftspraxis bewegen. Sie umfassen soziale und ökologische Kriterien wie den Schutz von Biodiversität und Lebensräumen, Regeln für den Erwerb von Plantagenland sowie soziale Standards und Arbeitsrechte. Entlang dieser Kriterien bewerten Nachhaltigkeitszertifizierungssysteme die Produktionsbedingungen und versprechen auf diese Weise einen Rahmen für nachhaltige Praktiken zu schaffen. Insbesondere in den 1990er und 2000er Jahren nahm die Zahl von freiwilligen Nachhaltigkeitsstandards und -zertifizierungssystemen stark zu, was auch mit einem Anstieg der zertifizierten Produktion einherging.

Allerdings zeigen Studien, dass die Wirksamkeit dieser höchst ambivalent sind: Von den untersuchten Gütesiegeln von NGOs und der Industrie wiesen 47% eine positive Auswirkung auf Umweltfaktoren auf, bei weiteren 47% wurden keine signifikanten Auswirkungen gefunden und bei 6% sogar negative7. Zudem konzentrieren sich Gütesiegel in vielen Sektoren weiterhin auf enge Marktnischen.

Das Beispiel Palmöl
Bei der Produktion von Palmöl, einem der wichtigsten Rohstoffe der Welt und in unserem Leben allgegenwärtig, hat die Zunahme von Zertifizierungssystemen tendenziell zu einer Verwässerung der Nachhaltigkeitsstandards geführt. Relativ ehrgeizige Systeme verloren in vielen Fällen aufgrund der Konkurrenz mit weniger strengen Systemen zunehmend an Bedeutung. Im Palmölsektor wurde 2004 mit dem Roundtable for Sustainable Palmoil (RSPO) das erste Zertifizierungssystem eingeführt, das rund 19% der weltweiten Palmölproduktion abdeckt. Dem sind weitere gefolgt, von denen manche deutlich niedrigere Standards aufweisen. Für Verbraucher*innen ist es schwierig bis unmöglich nachzuverfolgen, was ein „gutes“ oder „schlechtes“ Siegel oder Zertifizierungssystem ist, zumal es in vielen Fällen an Transparenz mangelt, wer die Standards festlegt und wer sie zertifiziert.

Die Politikwissenschafterin und Expertin in der Palmölökonomie Alina Brad von der Universität Wien fasst die Forschungsbefunde dazu folgendermaßen zusammen: „Nach 17 Jahren freiwilliger Zertifizierung im Palmölsektor ist die Bilanz klar: Während ein vergleichsweise kleiner Teil der Produktion in einigen Aspekten durch Zertifizierungssysteme nachhaltiger wurde, sind mit dem Großteil der Palmölproduktion nach wie vor massive Umweltschäden und soziale Verwerfungen verbunden. Besonders problematisch ist, dass der Anteil der zertifizierten Produktion an der nach wie vor wachsenden gesamten Palmölproduktion relativ gering ist und stagniert – die Expansion von Plantagenflächen geht also weiter – mit all ihren negativen ökologischen und sozialen Folgen. Freiwillige Zertifizierungen haben Entwaldung, die Entwässerung von Mooren oder Verletzung von Arbeitsrechten und Landvertreibungen – betrachtet man den gesamten Sektor – nicht gestoppt.“

Empfehlung aus der Wissenschaft: Regulierung statt freiwilliger Selbstverpflichtung
In anderen Sektoren sieht die Situation noch schlechter aus. Dort werden selten mehr als 1% der globalen Produktion8,9 zertifiziert. Gleichzeitig wurden besonders industrieeigene Gütezeichen wegen mehreren Schlupflöchern kritisiert. Dazu zählen beispielsweise der Anstieg der Umwidmung landwirtschaftlicher Flächen unmittelbar vor dem Stichtag der Zertifizierung oder die Auslagerung von Landnutzungsänderungen auf Tochterunternehmen, was die Wirkung dieser Gütesiegel weiter einschränkt.8

Auch die beiden Wissenschafter Nicolas Roux und Andreas Magerl vom Institut für Soziale Ökologie an der BOKU Wien zeigen sich skeptisch bezüglich der Wirksamkeit von freiwilligen Zertifikaten: „Im Gegensatz zu freiwilligen Gütezeichen haben Handel-, Lieferketten- und Finanzregulierungen eine viel glaubwürdigere Wirkung auf Waldschutz, Ökosysteme und Menschenrechte.6 Ein verpflichtendes Due Diligence Lieferkettengesetz kann sich außerdem auf hohe Befürwortungsraten stützen. Das zeigen die Antworten auf die entsprechende EU Konsultation. Bestehende Erfahrungen zeigen auch, dass institutionelle Barrieren durchaus überwunden werden können.“ 6

In die gleiche Kerbe schlägt auch die Politikwissenschafterin Brad: „Ambitioniertere und strengere Umweltauflagen und soziale Standards müssten konsequenter mittels staatlicher Regulierung durchgesetzt werden. Denn die Bilanz freiwilliger Zertifizierung im Palmölsektor zeigt: Die freiwillige Selbstverpflichtung von Unternehmen greift zu kurz, um den gesamten Palmölsektor insgesamt nachhaltiger zu machen. Hier sind nicht nur die Produktionsländer in der Pflicht: Mit einem Lieferkettengesetz, das effektive zivilrechtliche Klagemöglichkeiten bei Verstößen ermöglicht, hätten auch europäische Länder einen starken politischen Hebel in der Hand.“

Literaturverweise finden Sie im PDF.