Machtübernahme der Taliban in Kabul: Wissenschafterinnen und Wissenschafter fordern die sofortige Einrichtung eines Resettlement-Programms für Flüchtende (Pressemitteilung vom 18.08.2021)

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Pressemitteilung
18. August 2021

Machtübernahme der Taliban in Kabul: Wissenschafterinnen und Wissenschafter fordern die sofortige Einrichtung eines Resettlement-Programms für Flüchtende

Angesichts der Machtübernahme der Taliban fordern Wissenschafter:innen der Initiative Diskurs. Das Wissenschaftsnetz von der österreichischen Bundesregierung ein Resettlement-Kontingent von mindestens 4.450 Menschen aus Afghanistan, die Österreich rasch und unbürokratisch mittels sicheren Flugtransfer aus Afghanistan aufnehmen müsse. Diese Anzahl orientiere sich an der Empfehlung der Fachkommission für Fluchtursachen der Deutschen Bundesregierung, die ein Kontingent in Höhe von 0,05% der Gesamtbevölkerung vorsieht. „Aufgrund der Gefährdungslage sollten vor allem Mädchen und Frauen, die beispielsweise im Bereich Bildung und Selbstbestimmung tätig waren, gerettet werden. Aber auch Journalist:innen, Aktivist:innen und ehemalige Regierungsmitarbeitende sind akut bedroht“, so die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der WU Wien.

Durch das rasche Voranschreiten der Taliban seien auch die Preise für internationale Schlepperei rasant gestiegen: „Ohne legale Fluchtwege wie eben Resettlement-Programme führt dies zu einer ökonomischen Auslese“, so die Forscherin weiter: „Die Ärmsten der Armen können sich internationale Flucht über weite Distanzen nicht leisten und sitzen im Land fest.“ Schätzungen zufolge sind etwa 500.000 Menschen innerhalb der GrenzenAfghanistans geflüchtet, vorrangig in die Hauptstadt Kabul, die bis vor kurzem noch als sicherer galt. Rund drei bis fünf Millionen konnten sich ins unmittelbare Ausland, darunter vor allem Pakistan, Tadschikistan und Iran, retten. Doch auch diese Länder könnten bald an ihrem Kapazitätsgrenzen stoßen: Pakistan zählt seit langem zu den Top-Aufnahmeländern von Flüchtlingen weltweit. Bereits in den vergangenen Jahren fanden hunderttausende Afghanen dort Zuflucht. Die EU werde deshalb nicht darum herumkommen, afghanische Geflüchtete aufzunehmen und menschenrechtskonform unterzubringen, so der Tenor der Wissenschafter:innen.

Innenpolitisch fordern die Wissenschafter:innen ein völliges Umdenken der österreichischen Bundesregierung angesichts dieser humanitären Katastrophe. Noch am Wochenende hielt Innenminister Nehammer daran fest, dass afghanische Asylwerber:innen weiterhin nach Afghanistan abgeschoben werden sollten, obwohl längst klar war, dass dies in der derzeitigen Situation dem verfassungsgesetzlichen Refoulement-Verbot in der Europäischen Menschenrechtskonvention widersprechen würde, woran auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keinen Zweifel gelassen hat. Der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak von der Universität Wien und der Universität für Angewandte Kunst kritisiert: „Selbst am Tag, als die Taliban die absolute Macht in Afghanistan übernommen hatten und schwerste Menschenrechtsverletzungen, vor allem gegenüber Mädchen und Frauen, bereits wieder auf der Tagesordnung stehen, machte sich der Innenminister nicht primär Gedanken, welchen Beitrag Österreich zur Lösung dieser humanitärem Krise leisten könne, sondern überlegte Möglichkeiten, wie man die Einengung durch die EMRK durch die Einführung von Rückschiebezentren in den Nachbarländern von Afghanistan (also vor allem in Pakistan und im Iran) organisieren könne.“ Für Manfred Nowak ist dieses Verhalten „nicht nur zynisch, sondern völlig absurd.“ Nowak fordert stattdessen die Entlassung aller abgelehnten afghanischen AsylwerberInnen aus der Schubhaft, da „in der aktuellen Situation, die keine Abschiebungen nach Afghanistan mehr erlaubt, jede Schubhaft rechtswidrig ist, da sie ja nur der Vorbereitung und Durchführung von Abschiebungen dienen sollte“, so Nowak. Deswegen würde „die weitere Aufrechterhaltung der Schubhaft das Recht auf persönliche Freiheit in der EMRK verletzen“.

„Während man sich rund um den Globus den Kopf zerbricht, wie man Menschen aus Afghanistan in Sicherheit bringen kann, klammert sich Innenminister Nehammer verzweifelt an menschenrechtswidrige Abschiebungsphantasien,“ ergänzt der Politikwissenschafter Alexander Behr. Er fordert: „Insbesondere bereits laufende Familienzusammenführungen müssen umgehend abgeschlossen und die Betroffenen notfalls mit der Hilfe anderer EUStaaten aus Afghanistan evakuiert werden. Viele Afghaninnen und Afghanen, die in Österreich Schutz gefunden haben, fürchten heute um ihre Familienmitglieder und versuchen verzweifelt, diese zu retten und ihnen beizustehen. Die Betroffenen brauchen jetzt sofort konkrete Unterstützung“, so Alexander Behr.

Angeregt wird außerdem die Einrichtung eines humanitären Aufnahmeprogramms (HAPAfghanistan) für besonders vulnerable Personen und solche, die nahe Verwandte in Österreich haben. Notwendig wäre die Einrichtung einer zentralen Stelle, bei der Anträge eingebracht werden können. Dabei könne auf die Erfahrungen der humanitären Aufnahmeprogramme (HAP I-II) für syrische Schutzsuchende zwischen 2013 und 2017 zurückgegriffen werden. Die entsprechende Infrastruktur müsse sofort eingerichtet werden, um Menschenleben zu retten, so die Wissenschafter:innen.

Abschließend erinnern die Wissenschaftler:innen an das kürzlich begangene 70-jährige Jubiläum der Genfer Flüchtlingskonvention: „Beim Stellen eines Asylantrags auf europäischen Boden und, im Falle eines positiven Bescheids, der Aufnahme von Geflüchteten handelt es nicht um Almosen oder einen Akt der Barmherzigkeit, sondern ein verbrieftes Recht, das in und durch Europa erstritten wurde. Diese historische Errungenschaft ist in einem Rechtsstaat wie Österreich hochzuhalten“, so Judith Kohlenberger abschließend.