Kritik am Wirtschaftswachstum: „Degrowth“ im Europäischen Parlament (Pressemitteilung, 17. Mai 2023)
Expertinnen
Dr.in Corinna Dengler (WU Wien)
Dr.in Brototi Roy (Central European University)
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Pressemitteilung
17. Mai 2023
Hochkarätige Konferenz in Brüssel diskutiert diese Woche Perspektiven einer EU-Wirtschaft ohne Wachstumszwang
[Wien, 17.05.2023] Der neuste IPCC-Bericht hat deutlich gezeigt: Das Gleiche in Grün (grünes Wachstum, grüner Kapitalismus) wird den ökologischen Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht. Zunehmend als nötig erachtet wird eine radikale Trendwende darin, wie wir Wirtschaften. Vetreter*innen des Konzeptes „Degrowth“ diskutieren schon lange die Konturen einer ökologisch nachhaltigen und sozial gerechten Postwachstumsgesellschaft. Diese Woche sind viele von ihnen, so auch Dr. Brototi Roy von der Central European University und Dr. Corinna Dengler von der Wirtschaftsuniversität Wien, bei der „Beyond Growth“-Konferenz in Brüssel vertreten. In einer aktuellen Presseaussendung von „Diskurs. Das Wissenschaftsnetz“ stellen sie die Kerngedanken von Degrowth vor.
In den letzten Jahren wurde in Europa vor dem Hintergrund sich zuspitzender ökologischer Krisen zunehmend über die notwendige Neuausrichtung unseres Wirtschaftssystems debattiert. Dabei hat sich der Begriff Degrowth (dt. Postwachstum) etabliert, mit dem eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum als oberstes Ziel der Wirtschaftspolitik gefordert wird.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass es kein unendliches Wirtschaftswachstum auf einem endlichen Planeten geben kann, beschäftigt sich Degrowth mit Fragen nach einem sozial gerechten gesellschaftlichen Wandel hin zu einem guten Leben für Alle innerhalb planetarer Grenzen. „Diese Debatte um systemische Alternativen zum Wachstumszwang muss geführt werden, nicht zuletzt, weil uns der letzte IPCC-Bericht ein sich schnell schließendes Zeitfenster für die Sicherung einer lebenswerten und nachhaltigen Zukunft für Alle attestiert“, sagt Corinna Dengler, Assistenzprofessorin an der WU Wien. Eine starke Entkopplung von Wirtschaftswachstum auf der einen Seite und Ressourcenverbrauch sowie Emissionen auf der anderen, wie sie von Fürsprechern eines „grünen Wachstums“ oft vorgebracht wird, sei – auch hierin ist der IPCC-Bericht deutlich – in der gebotenen Zeit sehr unwahrscheinlich.
Wirtschaften ohne Wachstumszwang
Degrowth meint also im Wesentlichen einen sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Umbau und auch Rückbau wirtschaftlicher Aktivität. Doch: „Degrowth ist nicht mit einer Rezession gleichzusetzen. Vielmehr geht es um eine Abkehr vom strukturellen Wachstumszwang. Also von dem Umstand, dass die Wirtschaft immer weiterwachsen muss, um nicht zusammenzubrechen. In einer Welt, in der wir uns das Wirtschaftswachstum ökologisch nicht mehr leisten können, darf das Funktionieren sozialer Sicherungssysteme wie dem Pensionssystem oder der Krankenversorgung nicht länger davon abhängig sein, dass die Wirtschaft weiterwächst“, erklärt Dengler.
Zudem gehe es nicht um eine Wachstumsrücknahme in allen Sektoren. Degrowth sei ein Plädoyer für den Ausbau sozialer Sicherungssysteme und einer hochwertigen, für alle Menschen zugänglichen öffentlichen und umweltfreundlichen Infrastruktur, etwa im Bereich des öffentlichen Verkehrs, der Gesundheitsversorgung oder der Bildung. „Während einige Sektoren, wie der Erdgas- oder Chemiesektor, deutlich schrumpfen müssen, müssen andere Bereiche wie der Pflege- und der Bildungssektor ausgebaut, aber auch anders, nämlich für alle zugänglich und ohne Profitinteressen, organisiert werden“, fasst Dengler zusammen.
Degrowth im Europäischen Parlament
Debatten um Degrowth werden heute nicht mehr nur an Universitäten und in sozialen Bewegungen geführt, sondern finden zunehmend Gehör in der politischen Arena. 2018 fand neben der Internationalen Degrowth-Konferenz in Malmö zum ersten Mal eine vom Europäischen Parlament organisierte Postwachstumskonferenz in Brüssel statt. Diese zeigte die Bereitschaft der EU-Politik, Strategien für den Übergang in eine ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Postwachstumsgesellschaft zu diskutieren.
Diese Woche gehen die Degrowth-Diskussionen in Brüssel in die zweite Runde: Vom 15. bis zum 17. Mai findet die „Beyond Growth Conference“ mit hochrangigen Vertreter*innen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft im Europäischen Parlament statt. Entstanden ist die Konferenz aus einer parteiübergreifenden Initiative von 20 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, die von einer Vielzahl von Partnerorganisationen unterstützt wird. Erklärtes Ziel der Konferenz ist es, eine zukunftsfähige EU ohne Wirtschaftswachstum in die Praxis umzusetzen. Die Teilnahme vor Ort war schnell ausgebucht und mehrere Tausend Interessierte haben sich zur virtuellen Teilnahme an den 7 Plenarsitzungen, 20 Fokus-Panels und 4 Policy Labs registriert. Leitfragen für die Konferenz sind: Welches Narrativ braucht eine EU, die auf Wohlstand und nicht auf Wachstum ausgerichtet ist? Welche politischen Maßnahmen sind erforderlich, um eine sozial gerechte Gesellschaft aufzubauen, die gleichzeitig die planetarischen Grenzen respektiert? Welche Governance-Strukturen sind nötig, um die mit dem Wandel einhergehenden ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen? Wie können Widersprüche zwischen bestehenden EU-Politiken und einer europäischen Agenda für eine Postwachstumsökonomie beseitigt und die Prioritäten entsprechend neu ausgerichtet werden?
Globale Perspektiven mitdenken
„Obwohl der Schwerpunkt der Konferenz auf der EU liegt, ist es in der heutigen globalisierten Welt unvermeidlich, globale Perspektiven mitzudenken“, sagt Brototi Roy, Forscherin an der Central European University und Vize-Präsidentin des internationalen Degrowth-Netzwerks „Research & Degrowth“, dass die Beyond Growth-Konferenz in Brüssel mitorganisiert.
Mit Blick auf die ökologischen Krisen unserer Zeit ortet Roy ortet eine doppelte Ungerechtigkeit: Erstens tragen nicht alle Länder und Regionen gleichermaßen zu ihrer Verursachung bei. So wurde und wird etwa die Klimakrise vor allem durch frühindustrialisierte Länder des globalen Nordens verursacht, denn die Kehrseite ihrer hohen Wachstumsraten waren steigende CO2-Emissionen. Gleichzeitig bekommen jene Regionen, v.a. im Globalen Süden, die am wenigsten zu ihrer Verursachung beigetragen haben, deren Folgen am stärksten zu spüren, etwa durch Dürren und Überschwemmungen.
Degrowth werde daher oft als Perspektive für einen Wandel der Gesellschaften des Globalen Nordens betrachtet, die ökologisch seit langem über ihre Verhältnisse leben und die ökologischen und sozialen Kosten für ihre „imperiale Lebensweise“[1] systematisch in den Globalen Süden auslagern, etwa durch die Verlagerung schmutziger Industrien oder durch Exporte von Plastikmüll und Elektroschrott. Roy gibt aber zu bedenken: „Es ist wichtig zu betonen, dass der Globale Süden keine homogene Einheit ist. Die Eliten des Südens leben nicht viel anders als die des Nordens und Luxus-Einkaufszentren in Delhi, Dubai oder Dublin sehen sehr ähnlich aus.“ Der Glaubenssatz, dass der Globale Süden grundsätzlich wachsen müsse, sei daher in Frage zu stellen. Vielmehr könne auch hier ein sich Lösen aus der – in ungleichen Handelsbeziehungen eingeschriebenen – strukturellen Wachstumsabhängigkeit Spielräume schaffen, um eine gerechtere Wohlstandsverteilung und das gute Leben für möglichst Alle ins Zentrum zu stellen.
Kritik an der Auffassung, dass Entwicklung am besten durch Wirtschaftswachstum zu erreichen sei, gibt es auch im Globalen Süden. Wachstumskritische Debatten tragen dort oft andere Namen (z.B. Buen Vivir in Lateinamerika), seien aber wichtige Allianzen und Inspirationen für Degrowth. 2014 wurde in Neu-Delhi ein zweitägiges Seminar mit rund 140 Teilnehmenden organisiert, bei dem lokale Forscher*innen, Aktivist*innen, politische Entscheidungsträger*innen und Studierende inspiriert von dem Buch „Post-Growth Thinking in India: Towards Sustainable Egalitarian Alternatives“ über politische Visionen und Degrowth in Indien diskutierten.[2] Ob Degrowth auch eine Perspektive für Länder des Globalen Südens sein kann, wird nur die Zeit zeigen. Aber: „Die Dialoge im Europäischen Parlament und die Debatten in mehreren Fokusgruppen zur Frage, wie wir als Gesellschaften wachstumsunabhängiger werden können, tragen sicherlich dazu bei, Postwachstumsdebatten in verschiedenen Regionen der Welt Gehör zu verschaffen“, so Roy abschließend.
Literaturverweise:
[1] Brand, Ulrich; Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im Globalen Kapitalismus. München: oekom.
[2] Gerber, Julien-François; Raina, Rajeswari S. Raina (2018): Post-Growth Thinking in India: Towards Sustainable Egalitarian Alternatives. Neu-Delhi: Orient Blackswan.