Anti-Kriegs-Proteste in Russland: Staatliche Repression und Pro-Kriegs-Stimmung in der Bevölkerung machen Widerstand schwer (Presseaussendung 08.07.2022)

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Anti-Kriegs-Proteste in Russland: Staatliche Repression und Pro-Kriegs-Stimmung in der Bevölkerung machen Widerstand schwer

Zwei Wissenschafter berichten über Anti-Kriegs-Proteste in Russland und die Stimmungslagen in der russischen Bevölkerung

[Wien / 08.07.2022] Proteste gegen den Angriffskrieg in der Ukraine haben es in Russland schwer. Das liegt nicht nur an der massiven staatlichen Repression und einer autoritären politischen Kultur, sondern auch daran, dass der Krieg trotz seiner wirtschaftlichen und sozialen Folgen in der Bevölkerung eine breite Zustimmung findet. Zunehmende wirtschaftliche Unsicherheiten in der Bevölkerung könnten jedoch mittelfristig zu einer Änderung der Stimmungslage beitragen und das Putin-Regime und seine Kriegspropaganda vor große Herausforderungen stellen.

Anti-Kriegsproteste in der russischen Zivilgesellschaft

In den ersten Wochen nach dem Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine protestierten Tausende vor allem junge und höher gebildete Menschen auf den Straßen von über 60 Städten. Die zu erwartende Repression setzte sofort und kompromisslos ein – nach Schätzungen sind seither mehr als 13 000 Protestierende festgenommen worden, mehr als bei allen vorherigen Protestwellen, z.B. jener gegen die Inhaftierung des Oppositionellen Alexey Navalny. Protest gab es aber auch abseits der Straßen. Viele Berufsvereinigungen, Prominente des öffentlichen Lebens, aber auch Politiker*innen und Wirtschaftseliten haben ihre Kritik kundgetan – durch Petitionen, offene Briefe und Statements. Besondere Beachtung hat der Plakatprotest der Journalistin Marina Ovsyannikova während einer Live-Sendung im Staatsfernsehen gefunden.

„Mittlerweile gibt es nur noch wenig Protest, denn die Opposition hat keine Führungsfigur und keine zusammenhaltenden Strukturen. Nachdem das Regime den Oppositionsführer Alexey Navalny inhaftiert und seine Organisation verboten hat, gibt es niemanden, der die unterschiedlichen Gruppierungen koordinieren könnte“, so der Zivilgesellschaftsforscher Christian Fröhlich von der Wirtschaftshochschule Moskau. Ihm zufolge waren die Proteste der ersten Wochen eher improvisiert. Und: „Die Repressionen trugen zur Schwächung der Bewegung bei, etwa wenn Studierende wegen ihrer Protestteilnahme von ihren Universitäten ausgeschlossen wurden.“ Dazu komme die vorherrschende politische Kultur: „Traditionell fühlt sich in Russland der Normalbürger weit entfernt von der Politik und den Autoritäten, und der Einzelne hat das Gefühl, keinen Einfluss auf politischen Entscheidungen zu haben“, so Fröhlich weiter.

Breite Zustimmung zum Krieg in der Bevölkerung

Entscheidend für den (Miss-)Erfolg von Protest ist, dass er in der breiten Bevölkerung Anklang findet. Hier zeigt sich ein ernüchterndes Bild. Laut aktuellen Umfragen des regierungsunabhängigen Levada-Zentrums vom Mai 2022 unterstützen 77% der Russinnen und Russen die militärischen Aktivitäten in der Ukraine. In der üblicherweise protestaktivsten Gruppe der 18-24-Jährigen sind es immer noch 70%. Unser Informant, der als Professor an einer russischen Universität arbeitet, aber aus verständlichen Gründen anonym bleiben wollte, sieht darin auch eine Folge der Staatspropaganda. „Nach dem Schock der ersten Wochen der Invasion und einer intensiven Kriegspropaganda verändert sich die Stimmung in der Bevölkerung. In den Augen vieler Russinnen und Russen ist der Westen nunmehr der klare Feind. Russland kämpft ihrer Ansicht nach für die richtigen Werte und wird immer stärker. Sie glauben, dass der Präsident das Land in die richtige Richtung führt“, so der Experte. „Selbst wenn man davon ausgeht, dass manche Teilnehmer der Umfragen aus Angst vor Repressalien ihre Meinung nicht äußern, deuten diese Angaben auf eine breitere Unterstützung der militärischen Aktivitäten in der Ukraine hin, als man hoffen könnte“, gibt der Professor zu bedenken.

Auf eine breite Zustimmung deuten auch die – politisch neutralen – Bemessungen des Wohlbefindens hin. So zeigt z.B. die April-Umfrage des Levada-Zentrums deutliche positive Veränderungen im Wohlbefinden der Befragten. Der Grad der Zufriedenheit und Selbstbestätigung ist demnach deutlich gestiegen: von 55% im April 2021 auf 66% im April 2022. Im Gegensatz dazu sank die im März noch sehr hohe Rate von Depressionen und Aggressionen auf 31-32%. „Die Mehrheit der Russen und Russinnen fühlt sich derzeit offenbar kaum schuldig oder vom Krieg traumatisiert.“, schließt der Experte aus den Umfragen.

Die breite Zustimmung zum Krieg bedeutet, dass es derzeit in der Bevölkerung nur wenige Protestressourcen gibt. Christian Fröhlich zufolge macht sich bei den Protestierenden auch deshalb Ernüchterung breit: „Die Enttäuschung darüber, dass nichts erreicht wurde und man mit Protesten nichts bewirken kann, wenn die Proteststimmung nicht auch in der Mitte der Bevölkerung ankommt, etwa aufgrund deutlicher Verringerungen der Haushaltseinkommen, wirkt sich negativ auf die Protestbereitschaft aus“, so der Soziologe.

Wirtschaftliche Zukunftserwartungen zwischen Optimismus und Unsicherheit

Die wirtschaftlichen Zukunftserwartungen in der Bevölkerung schätzt unser einheimischer Experte als durchwachsen ein: „Ganz im Gegensatz zu den einheimischen Wirtschaftsexperten, scheint sich die Mehrheit der Menschen von der Propaganda der staatlichen Medien einlullen zu lassen. Zwar erwarten manche durchaus negative Kriegsfolgen. Vorherrschend ist aber die Überzeugung, dass diese das Ausmaß einer ‚normalen‘ Krise kaum überschreiten werden.“ Laut einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts VICOM ist die überwältigende Mehrheit der Russinnen und Russen (94%) zuversichtlich, dass russische Hersteller in der Lage sein werden, importierte Waren auf den Lebensmittelmärkten zu ersetzen. „Diese Umfragen einer staatsnahen Agentur sind zwar mit Vorbehalt zu sehen, jedenfalls kann man derzeit kaum von einer Katastrophenstimmung in der breiten Bevölkerung reden“, so der Experte.

Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass sich in der Bevölkerung wirtschaftliche Verunsicherung breit macht. So planen 75% der RussInnen laut einer Mai-Umfrage der Arbeitsvermittlung „Zarplata.ru“ im Sommer nach zusätzlicher Teilzeit-Arbeit zu suchen. Davon sind 26% der Befragten bereit, Teilzeitjobs für die gesamte Sommersaison anzunehmen. Mehr als ein Drittel (39%) der Befragten gab an, dadurch Kredite schneller abzahlen oder andere Schulden begleichen zu wollen, während fast ein Viertel (24%) äußerte, Lohneinbußen kompensieren zu wollen. Ein Fünftel will sich dadurch Ersparnisse anlegen und 8% meinten, sich dadurch finanziell absichern zu wollen. Die Interpretation des Professors: „Durch die Fassade der Zustimmung blitzt eine verborgene Unsicherheit hervor.“

Proteste gehen weiter

Trotz Repression und breiter Kriegszustimmung haben die Proteste nicht aufgehört: „Protest findet immer noch statt und fast jeden Tag werden Menschen für ihre individuellen Aktionen, immer wieder an Universitäten, verhaftet. Zudem suchen oppositionelle Gruppen neue, künstlerische Formen des Protestes.“, sagt Christian Fröhlich. Beispielsweise hält die „Partei der Toten“ auf Friedhöfen Performances ab, mit surrealen Sprüchen wie „Mütter, eure Kinder sind Fake!“. Recht bekannt ist gegenwärtig der feministische „Antikriegswiderstand“, deren Mitglieder in Städten im ganzen Land heimlich Grabkreuze aufstellen, um an die gefallenen Ukrainer und Russen zu erinnern. Jeder, der so ein Kreuz errichtet, ist Teil der Bewegung. „Wir wissen aus der Vergangenheit: Protest sucht sich immer ein Ventil, auch in Russland.“, so Fröhlich weiter.

Unsicherheit kann zur Protestquelle werden

Zudem sei ungewiss, wie sich die Stimmungslage in der breiten Bevölkerung entwickeln wird: „Derzeit besteht wenig Hoffnung auf baldige Änderungen in der inneren Stimmungslage in Russland, wohl aber manche Indizien der heranwachsenden wirtschaftlichen Instabilität“, sagt unser russischer Experte. Dem Zivilgesellschaftsforscher Fröhlich zufolge kann diese Unsicherheit zur Protestquelle und für das Regime zu einem großen Problem werden: „Die Erzählung, dass Putin das russische Volk vor äußeren Feinden schützt, ist derzeit noch stark genug, um die Umstände auszuhalten. Doch das wird für die Machthaber im Kreml zu einem der wichtigsten Probleme in der nahen Zukunft werden: sie müssen entweder den vollen Kühlschrank garantieren oder neue, stärkere Rechtfertigungen finden.“, so Fröhlich abschließend.