Italien wählt – ein historischer Wendepunkt? (Presseaussendung, 23.09.2022)

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Pressemitteilung
23. September 2022

[Rom/Berlin/Wien] Nach dem jähen Ende der Regierung von Mario Draghi und einem ebenso kurzen wie polarisierenden Wahlkampf wählt Italien am 25. September ein neues Parlament. Umfragen sehen die rechte Partei Fratelli dItalia (Brüder Italiens) von Giorgia Meloni als Siegerin und treibende Kraft der rechten Koalition, zu der auch die Lega von Matteo Salvini und Forza Italia von Silvio Berlusconi gehören. Was sind die politischen Hintergründe des Aufstiegs der Fratelli dItalia und welche Politik verfolgt sie? Welche möglichen innen- und europapolitischen Folgen könnte ein rechter Wahlsieg haben? In der vorliegenden Presseaussendung geben die PolitikwissenschafterInnen Daniela Caterina und Fernando D’Aniello Einschätzungen zu diesen Fragen ab.

Die lange Krise des italienischen Parteiensystems

Bereits seit Anfang der 1990er-Jahre suchen die italienischen Parteien einen Weg aus der politischen Krise, aber auch nach zahlreichen Regierungen – jener von Berlusconi, verschiedener sogenannter „technokratischer“ Regierungen und der Gründung der Demokratischen Partei (Partito democratico, PD) sowie einer kurzlebigen Mitte-rechts-Partei (Popolo delle Libertà, Volk der Freiheiten), wurde keine dauerhafte Lösung gefunden. Seit dem Ende der Regierung von Monti (2011-2012) hat eine Spirale aus Wirtschaftskrise und sozialer Missstände die politische Instabilität verschärft, die in nur wenigen Jahren sehr unterschiedliche politische Akteure belohnt hat: vom Boom für Renzis PD bei den Europawahlen 2014 bis zum Erfolg von Lega und Fünf-Sterne-Bewegung bei den Parlamentswahlen 2018.

Nach dem Sturz der Regierung von Mario Draghi hat der Präsident der Republik im Juli 2022 vorzeitig das Parlament aufgelöst. „Dass die politische Krise und insbesondere der kritische Zustand der politischen Parteien eine neue Stufe erreicht haben, ist bereits mit der Berufung von Mario Draghi zum Ministerpräsidenten 2021, der Unfähigkeit, einen neuen Präsidenten der Republik zu wählen, und der folgenden Wiederwahl von Sergio Mattarella 2022 offensichtlich geworden“, sagt der Politikwissenschafter Ferando D’Aniello. Er sieht die die Schwäche der politischen Parteien auch für den Ausgang der Wahl und den Verlauf der folgenden Legislaturperiode als ausschlaggebend an.

Fratelli d’Italia – Hintergründe des Aufstiegs

Die Umfragen kündigen den Vorsprung einer rechten Koalition an, in der Giorgia Melonis Fratelli d’Italia die führende Rolle einnimmt, zu der aber auch die Lega von Matteo Salvini und Forza Italia von Silvio Berlusconi zählen. Nachdem Melonis Partei bei den Parlamentswahlen 2018 an 5%-Hürde gescheitert ist, setzte ab Frühjahr 2020 ihr Aufstieg an die Spitze der italienischen Rechten ein. Die Politikwissenschafterin Daniela Caterina, die an der Huazhong University of Science and Technology in Wuhan zur politischen Ökonomie Italiens sowie zu populistischen Parteien forscht, nennt mehrere Gründe hierfür. Wichtig sei die Schwäche von Salvinis Lega: Die Lega wurde nicht zuletzt durch die Covid-19-Pandemie auf die Probe gestellt und musste die Konsequenzen der Bewältigung des Notstands in Schlüsselregionen wie der Lombardei tragen“, so Caterina. Mehr noch: „Salvinis Beitritt zur Draghi-Regierung im Februar 2021 – mit der pro-europäischen Wende der europaskeptischsten Partei schlechthin – und Melonis Entscheidung, als einzige Partei in der Opposition zu bleiben, bereiteten den Boden für den Aufstieg der Fratelli d’Italia“, so die Politikwissenschafterin. Von den Oppositionsbänken aus habe Meloni in den Umfragen zulegen und ihre Positionen konsequent und solide vertreten können. Parallel dazu haben Wahlerfolge in Regionen wie den Abruzzen (2019) und den Marken (2020) das Kräftegleichgewicht zu ihren Gunsten verschoben. Und: „Meloni weckte auch die Neugier und die Hoffnungen einer breiten Wählerschaft, die von der Fünf-Sterne-Bewegung desillusioniert wurde oder einer „linken“ Welt angehörte, die es heute nicht mehr gibt, wie der Rechtsruck in den ehemaligen Hochburgen der Kommunistischen Partei zeigt“, analysiert Caterina. Fernando D’Aniello zufolge spielt Meloni auch in die Hände, dass das Mitte-links-Spektrum deutlich geschwächt, nach wie vor gespalten und ständig von der Fünf-Sterne-Bewegung bedroht ist: „Der Vorsitzende der linksliberalen Demokratischen Partei (PD) Enrico Letta scheint nicht in der Lage zu sein, seine Partei als glaubwürdige Alternative zur Mitte-rechts-Koalition und als politische Neuerung zu profilieren. Dass die PD seit mehr als zehn Jahren (mit-)regiert, spielt hier eine wichtige Rolle“, so D’Aniello.

Das Programm der Fratelli d’Italia

Melonis Slogan „Bereit Italien zu erheben!“ weist sie bereits als erste weibliche Premierministerin aus und unterstreicht den bahnbrechenden Charakter ihres politischen Angebots. Die Vorschläge in ihrem Parteiprogramm sind Caterina zufolge weit weniger innovativ. Neben Steuersenkungen für die Arbeitnehmerseite, aber vor allem für die Unternehmen sowie einer Erhöhung der Renten fordere sie eine Reform des Steuersystems. Außerdem strebe sie langfristig eine Verfassungsreform an, die Italien von einer parlamentarischen in eine präsidentielle Demokratie umbauen würde. Caterina zufolge ist es aber vor allem Melonis allgemeine politische Botschaft, die den Unterschied macht: „Im Kern von Melonis Botschaft steht der Dreiklang ‚Gott, Vaterland und Familie‘, den sie mit ihrem bekannten Slogan ‚Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter, ich bin eine Christin‘ transportiert.“

Möglichen Folgen für die Innen- und Außenpolitik

Die beiden ExpertInnen sind sich einig, dass eine rechte Koalition sehr instabil wäre. Ob eine Regierung aus Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia lange halten würde, sei fraglich: „Trotz ihrem politischen Geschick dürfte es Meloni schwerfallen, eine Mitte-rechts-Regierungskoalition zusammenzuhalten“, sagt D’Aniello. Ein Zankapfel wäre ihm zufolge auch die Haltung gegenüber der Europäischen Union: „Auf einer Seite stehen die EU-kritischen Kräfte in Melonis Partei, die bis zu den UnterstützerInnen des ungarischen Ministerpräsidenten Orban reichen. Auf der anderen Seite stehen überzeugte Europa-PolitikerInnen wie der ehemalige EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani. Ob Meloni hier eine gemeinsame Linie finden würde, bleibt offen“, so der Experte weiter.

Auch über die Vereinbarkeit und Durchführbarkeit ihrer jeweiligen Vorschläge, insbesondere im Bereich der Steuern, bestehen Daniela Caterina zufolge große Unsicherheiten und Konfliktpotenzial. Und: „Ein heißes Eisen für die Koaltion ist die Suche nach Lösungen für die derzeitige Energiekrise und der damit verbundenen Teuerung“. Dies hänge mit der entscheidenden Frage der außenpolitischen Positionierung der drei Verbündeten zusammen: „Melonis Stellung als ‚Atlantikerin‘ steht im Gegensatz zu Salvinis prorussischen Positionen und geht mit einer Vision von Europa einher, die sich stark von der Berlusconis unterscheidet“, fügt Caterina hinzu.

Ein rechter Wahlsieg könnte den Experten zu Folge die vielfältigen Krisen des Landes verschärfen: „Die Instabilität einer möglichen Regierung Melonis sowie ein sehr gespaltenes Parlament könnten eine parlamentarische Lösung auf die vielen Herausforderungen, vor denen das Land steht, blockieren“, gibt D’Aniello zu bedenken. So bestehe z.B. die Gefahr, dass die notwendigen institutionellen Reformen und sozialpolitischen Maßnahmen verschleppt würden, die u.a. für den Erfolg des europäischen Wiederaufbauplans nach Corona nötig wären. „Da die italienische Demokratie schon seit langem sehr geschwächt ist, könnte diese Wahl auch eine Verschärfung der sozialen und wirtschaftlichen Krise bedeuten. Sie könnte auch dazu führen, dass Italien auf der internationalen Ebene als unzuverlässiger Partner angesehen wird und weiter an Relevanz verliert“, schließt D’Aniello.